Holger E., 60: “Ich bin ein westlicher Ossi oder ein östlicher Wessi
Holger ist in der DDR aufgewachsen – dem Teil Deutschlands, der von von 1949 bis 1989 als “Demokratische Deutsche Republik” bestand. Sozialismus und Kommunismus sollten hier, nach dem Vorbild der Sowjetunion, verwirklicht werden. Mit 19 Jahren kam er in den Westen, in die Bundesrepublik Deutschland.
Hier sein Bericht.
“Wenn ich den Begriff Heimat höre, muss ich daran denken, dass ich mit 10 Jahren ein Gedicht mit eben diesem Titel bei einer Schulfeier aufsagen musste. Die ganze Turnhalle war voll mit Menschen, die mich erwartungsvoll anstarrten, und ich habe zum ersten Mal im Leben gespürt, was Lampenfieber bedeutet. Ich begann dreimal: “Meine Heimat … Meine Heimat … Meine Heimat … ” Dann wusste ich nicht weiter. Ich wollte in den Boden versinken.
Auch später habe ich nie gewusst, was das ist: Heimat. Ich bin nämlich ein westlicher Ossi oder ein östlicher Wessi. Meine Eltern stammten aus Thüringen. In der Zeit der DDR gab es dieses Bundesland nicht, aber jeder kannte es. Mein Vater, ein einfacher Arbeiter, ist “rübergemacht”, so nannte man das unter Freunden. Offiziell nannte man das Republikflucht. Wie das kam? In seiner sozialistischen Fabrik funktionierte wieder mal nichts. Er hatte den Chef angeschrien, dass man ‘die da oben’ alle in die Fabrik einsperren sollte, die Tür zuschließen und die Fabrik anbrennen sollte. So zornig war er.
In derselben Nacht kam heimlich ein Freund, der am Gericht arbeitete und gab ihm das fertige Urteil in die Hand: Zwei Jahre Gefängnis wegen Anstiftung zum Mord. Gut, wenn man solche Freunde hat. Drei Stunden später verschwand mein Vater im Zug nach Westberlin und ließ seine junge Frau mit 5 Kindern allein zurück. Man ließ uns später auch in den Westen ziehen.
Nun begann eine kleine Odyssee durch verschiedene Flüchtlingslager. Meine Oma sah ich nie wieder. Heimat? Über meinen Dialekt lachten die anderen Kinder im Westen. Wir lebten an verschiedenen Orten, wo es Arbeit gab. Was waren schon Flüchtlingskinder gegen die Kinder vom Apotheker, Pfarrer oder Lehrer? Wir trugen Zeitungen aus, arbeiteten auf den Feldern.
“Und so trage ich noch heute meine Zeitungen aus, das sind meine kleinen Botschaften, und ich arbeite stets auf verschiedenen Feldern. Auf der Suche nach einer Heimat habe ich viel von der Welt gesehen, war wohl in über 100 Ländern.”
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Ein interessanter Artickel. Man trifft selten dem Menschen, der keine Heimat hat.Kann es so sein? Ich glaube ja. Was ist eigentlich die Heimat? Die Antwort kann man nicht in einem Pass finden. Für meisten Menschen ist es der Ort, wo du wohnst oder geboren wurde. Aber das passt nicht für alle. Ich würde sagen, dass der Begriff Heimat eher auf Gefühle als auf Terretorium zurückzufüren ist. Heimat ist dort, wo ich mich wohl fühle.Und Wohlgefühl verbinde ich in erster Linie mit meiner Familie. In weiterem Sinne ist Russland meine Heimat, wenn ich in Ausland bin,sehne ich immer nach meiner Familie und meinem Land.