ACHTUNG: Dies ist das Kaleidoskop-Archiv. Besuche doch hier die neue Version!

Kaleidoskop Menü Meinung

Zum Thema Menü: Mahnmal
Klaus von Dohnanyi

Eine Friedensrede

Martin Walsers notwendige Klage

FAZ

  Als Martin Walser das harte Urteil von Ignatz Bubis über seine Frankfurter Friedenspreisrede hörte ("geistiger Brandstifter"), soll er ärgerlich gesagt haben: "Der hat offenbar nicht richtig zugehört und kein Wort verstanden; ich kann es ihm ja noch mal privat erklären." Inzwischen hat Bubis die Rede sicher mehrfach gelesen und doch in seiner eigenen, sorgfältig vorbereiteten Ansprache zum 9. November (FAZ vom 10. November) den harten Vorwurf unverändert wiederholt.

Mir scheint: Walser hat recht. Bubis hat ihn nicht verstanden. Vielleicht auch gar nicht verstehen können. Denn Walsers Rede war die Klage eines Deutschen - allerdings eines nichtjüdischen Deutschen - über den allzu häufigen Versuch anderer, aus unserem Gewissen eigene Vorteile zu schlagen. Es zu mißbrauchen, ja zu manipulieren.

Wer in unseren Tagen zu diesem Land in seiner Tragik und mit seiner ganzen Geschichte wirklich gehören will, wer sein Deutschsein wirklich ernst und aufrichtig versteht, der muß sagen können: Wir haben den Rassismus zum Völkermord gemacht; wir haben den Holocaust begangen; wir haben Vernichtungskrieg im Osten geführt. Diese Verbrechen sind, um mit Walser zu sprechen, deswegen auch unsere persönliche Schande. Nicht "Deutschland", die abstrakte Nation; nicht das "Deutsche Reich", die staatliche Organisation; nicht die anderen Deutschen - nein, wir selbst sind es gewesen. Deutsch waren die Befehle; deutsch die Befehlshaber; deutsch die Organisatoren (wenn auch oft mit europäischer Hilfe) und deutsch auch die Zuschauer. Die Schande trifft noch heute jeden einzelnen von uns als Deutschen. Jedenfalls, wenn er (oder sie) ein nachdenkliches Gewissen hat.

Die deutsche Identität, von der jetzt so oft und leider auch oft so unpräzise die Rede ist, diese deutsche Identität, wird heute eben durch nichts deutlicher definiert als durch unsere gemeinsame Abkunft aus dieser schändlichen Zeit; als durch die gemeinsame Abkunft von denen, die es taten, die es begrüßten oder die es doch mindestens zuließen.

Wer die internationalen Medien, die Literatur, die politischen Debatten der Welt verfolgt, der weiß: Auch in den Köpfen der Völker der Welt hat nichts das Bild von den Deutschen schärfer geprägt als diese gemeinsame Geschichte der Deutschen. Und man läßt uns dies spüren. Manchmal sicher auch - da hat Walser schon recht -, weil es sich immer wieder gut verkaufen oder - wie Walser auch sagt - instrumentalisieren läßt. Ob deutsche Schulklassen in den Niederlanden als "Nazis" beschimpft werden, ob der euroharte Helmut Kohl mit Hitler-Schnurrbart die Regenbogenpresse Englands ziert oder ob ein deutliches Wort aus Bonn zum Kosovo die Serben wieder die Anti-Hitler-Allianz in Erinnerung rufen läßt: Deutschland ist gezeichnet, und wir Deutsche tragen dieses Kainsmal. Nichts prägt folglich auch das deutsche Bewußtsein heute tiefer, als dies zu wissen - und zu erfahren.

Sicherlich, von Kollektivschuld spricht niemand. Bubis schon gar nicht. Und er betont das ausdrücklich. Aber ein besonders schneller Fingerzeig auf Deutschland, ein gewisser Kollektivverdacht auf eine besondere Anfälligkeit vielleicht auch der Deutschen heute, solches ist schon eher anzutreffen; auch wenn in Deutschland nichts anderes passiert als in anderen Ländern.

Auch das ist verständlich. In einer Rede, die ich im Januar 1997 zur Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz im Deutschen Bundestag hielt, habe ich gesagt: Wir - die Nachgeborenen - müssen dieses deutsche Schicksal annehmen. Und: Wir können unseren Nachbarn und der Welt dann wieder aufrecht und stolz begegnen, wenn wir unserer Geschichte in den Nazi-Jahren ins Auge sehen; wahrhaftig, demütig und ohne uns abzuwenden. So müssen wir als nichtjüdische Deutsche handeln.

Ignatz Bubis ist als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens - wie er sich selbst bezeichnet - selbstverständlich frei von diesem zentralen deutschen Erbe: Er ist ein Deutscher ohne schuldige Geschichte. Seine Familie wurde von den Nazis ermordet, und er selbst konnte nur knapp entkommen. Und obwohl ich einen Teil dieses Schicksals mit ihm teile, teile ich es doch nur als Nichtjude: ohne die persönliche Verfolgung, ohne die Demütigungen, ohne die Ohnmacht, ohne die Willkür. Frei gewählter Widerstand der Eltern ist etwas anderes, als selbst zu den Opfern eines Völkermordes zu gehören. Bubis' Schicksal war und ist unendlich viel schwerer als das meine.

Der unverdiente Freispruch

Ich teile aber sicherlich auch eine andere Erfahrung mit ihm, gegen die ich seit langem bewußt aufgestanden bin; eine Versuchung, der ich schon früh bemüht war zu entgehen: Wegen meines tapferen Vaters werde ich oft selbst als "gute Ausnahme" der Deutschen behandelt; ganz unverdient. Die Abkunft von ermordeten Widerstandskämpfern gibt nämlich ebenso wie die Abkunft von jüdischen Opfern eine Chance für einen persönlich völlig unverdienten Freispruch von der schändlichen, gemeinsamen Geschichte der Deutschen im Dritten Reich. Wie oft habe ich seit meinen ersten Studientagen in den Vereinigten Staaten bis zur Teilnahme an internationalen Aufsichtsräten oder Gesprächskreisen heute jene ebenso betonte wie doch auch unverdiente besondere Zuwendung erfahren - als ein Deutscher, der für die die anderen Völker so ganz doch kein Deutscher ist.

Ignatz Bubis kann, so glaube ich, Martin Walser in seiner deutschen Klage schon deswegen nicht verstehen, weil in allem Erinnern an die Naziverbrechen, wie auch immer es vorgetragen oder dargestellt wird, für Ignatz Bubis niemals auch nur ein Nebenton von persönlichem Vorwurf zu spüren sein kann. Bubis ist Jude, für ihn als Deutschen beginnt die Verantwortung erst nach dem Holocaust. Er ist deutscher Staatsbürger, aber er kann niemals - und wer würde das auch von ihm verlangen wollen! - sagen: Wir haben den Holocaust verschuldet.

Dabei ist sein Anteil daran, mäße man nur Kausalketten, nicht größer und nicht kleiner als derjenige all der heute bald sechzigjährigen nichtjüdischen Deutschen, die nach Adolf Hitlers Tod geboren wurden. Ich selbst formuliere deswegen, trotz meiner Familiengeschichte, immer ganz bewußt: Wir Deutsche haben das gemacht. Ignatz Bubis muß als Jude ein anderes Bewußtsein haben. Für ihn haben die Deutschen das getan. Allerdings müßten sich natürlich auch die jüdischen Bürger in Deutschland fragen, ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 "nur" die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären. Ein jeder sollte versuchen, diese Frage für sich selbst ehrlich zu beantworten.

Das eigene Gewissen

Jedermann, der Walser kennt (oder auch nur gelesen hat), müßte wissen: Niemals würde dieser Mann die Verbrechen der Nazis nicht auch Verbrechen nennen. Niemals auch nur einen Augenblick fremdenfeindliche Brutalitäten beschönigen. Walser verteidigt aber auch sein Recht auf ein eigenes Gewissen, das ganz bestimmt nicht weniger sensibel ist als das von Ignatz Bubis. Wenn er - wie Bubis zählte - in seiner umstrittenen Rede viermal von "Schande" spricht und nicht einmal von "Verbrechen", so doch nicht deswegen, weil er die Verbrechen nicht sähe - wofür denn dann die Schande? Walser befaßt sich mit der Schande ebendeswegen, weil seine Rede, die ja unübersehbar die Verbrechen nennt, der Verteidigung seines persönlichen Gewissens dienen sollte; weil er eben in der deutschen Schande für die Verbrechen vorangegangener Generationen seine eigene Verantwortung, sein selbstbestimmtes Gewissen bewahren will.

Denn, daß das unvergleichliche Verbrechen des Holocaust auch politisch instrumentalisiert werden kann und wird, ist ja unbestreitbar. Der gerade erst gegen ihn entschiedene Wahlkampf des amerikanischen Senators D'Amato in New York war dafür ein grelles Beispiel. Auch, daß es Kritik aus Israel selbst an einer wachsenden "Holocaust-Industrie" gibt, wissen wir. Wir müssen damit leben, obwohl es mich betroffen macht zu beobachten, wie von Jahr zu Jahr das existentielle Erschrecken der KZ-Besucher immer mehr einer nur noch historischen Neugier Platz macht. Diese Entwicklung ist wohl unausweichlich, sie nimmt ja auch Golgatha nicht aus.

Worauf es doch ankommt, ist, daß wir die Tatsachen nicht in Vergessenheit geraten lassen, daß wir die Erinnerung bewahren und daß wir eine menschliche Form des Gedenkens finden. Erinnern darf nicht zur bequemen Routine werden. Gegen diese Gefahr hat Walser gesprochen. Bubis müßte hier ganz auf seiner Seite stehen.

Und deswegen muß ich Walser auch hinsichtlich der Berliner Mahnmal-Pläne recht geben: eine Holocaust-Gedenkstätte, wie sie für Berlin geplant war (ist?), würde menschliches Gedenken nicht gerade fördern. Im monumentalen Steingehege könnte ich jedenfalls kaum gedenken; bestenfalls Zahlen und Maschinen würde ich erinnern, nicht aber leidende Menschen.

Ich finde auch, man muß es jedem einzelnen überlassen, wieviel von den Verbrechen zu sehen er ertragen kann und wie oft er sie sehen will. Ich, zum Beispiel, habe alle großen Filme über den Holocaust nicht gesehen, auch nicht "Schindlers Liste". Ich weiß, was war, und meine seelische Konstitution hält das einfach nicht aus. Ich verlasse immer den Raum, wenn im Fernsehen solche Schrecken gezeigt werden. Mag sein, daß ich zu empfindsame Nerven oder auch zu deutliche Erinnerungen habe. Mag aber auch sein, daß ich die letzte Würde der Opfer verletzt sehe, wenn diese in ihrem Leid und Schrecken von bequem gekuschelten Zuschauern bei Popcorn und Cola im Kino begutachtet werden. De gustibus non est disputandum.

Martin Walser sollte man mit dem Bewußtsein hören und lesen, daß auch er ein empfindsamer Mann ist. An keiner Stelle hat er etwa die Verbrechen oder die Notwendigkeit, sie zu kennen, bestritten. Er will nur nicht von allen möglichen Leuten zu Gewissensbekenntnissen gedrängt werden, besonders wenn diese Menschen ihm den Eindruck vermitteln, sie täten dies am Ende vielleicht doch in erster Linie, um sich durch die Identifikation mit den Opfern selbst für einen Augenblick aus der Reihe der Täter-Erben zu stehlen. Dieses Gefühl beschleicht mich leider auch allzuoft, wenn ich das Wort Auschwitz in politischen Debatten höre.

Martin Walser ist kein "geistiger Brandstifter", sondern ein vom Gewissen bedrängter Deutscher. Seine Rede war die Klage eines persönlich unschuldigen Deutschen, der sich in der historischen Haft weiß, in einer Schande für die Verbrechen vorangegangener Generationen, die er nicht begangen hat, für die er sich aber doch verantwortlich fühlen muß. Es war die verständliche, ja notwendige Klage eines gewissenhaften nichtjüdischen Deutschen über das schwierige Schicksal, heute ein solcher Deutscher zu sein.

Meine Meinung zum Thema "Mahnmal"

  Zurück zum Menü (Walser-Bubis-Debatte)

© Wolfgang Hieber 1998-2009